Rumpelstilzchen: Das Geheimnis wird gelüftet
 
 

Rumpelstilz

"Ein gar zu lächerliches Männchen" nennt der König (in späterer Fassung ein Bote) diesen Rumpelstilz. Was findet dieser ›männliche‹ König denn an dem Rumpelstilzchen so lächerlich? Warum ist es in seinen Augen kein Mann, sondern bloß ein kleines Männchen?

Männer haben ihre besonderen Rituale und Verhaltensweisen entwickelt, mit denen sie ihre Männlichkeit, beziehungsweise das, was sie selbst als Männlichkeit verstehen, demonstrieren - ohne sie wirklich beweisen zu müssen. Männlich sein heißt für sie dann, diese Rituale und Verhaltensweise zu beherrschen. Und ein Kern davon ist immer wieder, das Andere, das wesentlich Weibliche zu verachten, bestenfalls zu benutzen und schließlich auch zu missbrauchen. Wer das nicht kann oder will, ist in den Augen solcher Männer kein Mann, sondern ein Männchen, ein Schlappschwanz, ein Versager.

Manipuliert durch männliche Interessen ist die Müllerstochter in eine ausweglose Situation gekommen, aus der sie sich alleine nicht befreien kann. Sie versteht nichts davon, wie man Stroh zu Gold spinnt. Und weil sie nicht weiß, wie sie ihr Leben retten soll, wird ihr Angst und sie fängt zu weinen an.

Weinen ist Ausdruck von Hilflosigkeit, aber auch von Hingabe an das Schicksal. Bevor wir weinen, sind unsere Energien nach außen gerichtet, wir kämpfen, wollen die ungeliebten Umstände aus eigener Macht ändern. Wenn wir feststellen müssen, dass unser Vermögen nicht hinreicht, resignieren wir. Die Spannung des Kämpfens löst sich in Tränen auf. In der Trauer entspannen wir, lassen los. Unsere Energien richten sich nach innen. Das Weinen ist Symbol dafür und wird deshalb auch als ganz und gar unmännlich angesehen, denn der Mann definiert sich anders als die Frau dadurch, dass er das Außen bezwingt, seinem Willen unterwirft. Wenn ihm das nicht gelingt, gerät er in Wut und Rage, ist außer sich - statt in sich zu gehen.

Die Müllerstochter ist verzweifelt, weil sie aber keine Schuld auf sich geladen hat, muss ihr geholfen werden. So ist die märchenhafte Moral. Woher aber soll Hilfe kommen? Sie sitzt eingesperrt in der Kammer und es gibt niemanden, der sich um sie besorgt. Da weint sie, kehrt sich nach innen, und "da ging auf einmal die Türe auf, und trat ein ›kleines Männchen‹ herein". Was für eine Türe geht da auf einmal auf und was tritt in ihr Leben ein?

Ein kleines Männchen! Nicht nur ein Männchen, nicht einfach ein kleiner Mann, nein, ein kleines Männchen. Höchstpersönlich hatte der König doch die Tür zu seiner Strohkammer verriegelt. Gibt es da etwa eine zweite, unverschlossene Tür?

Wilhelm Grimm muss eine (männliche) Not verspürt haben, das plötzliche Herkommen des kleinen Männchens irgendwie nachvollziehbar zu machen. Warum? In der ersten Fassung schrieb er noch: "Da trat auf ein mal ein klein Männlein zu ihr." Woher es kam, schien unbedeutend (oder selbstverständlich). Weil die weltliche Tür verschlossen ist, kann es nur aus dem Nichts beziehungsweise von innen her, aus der weiblichen Sphäre kommen, wo Türen nicht im Wege sind. Wenn zuerst eine Tür aufgehen muss, damit das Männlein Zutritt erhält, beschränkt sich das Wunder aufs Schlosserhandwerk. Das Männchen tritt einem Einbrecher gleich von außen, also aus der männlichen Sphäre ein.

Dieses Männlein hat ein Geheimnis oder es bedeutet ein Geheimnis, das gerne übersehen wird. Es ist das Geheimnis des Männlichen in der Frau.

Deutlich wird das ganze Missverstehen besonders, wenn dieses Märchen inszeniert wird, ob als Hör- oder Schauspiel. Jede Inszenierung ist eine Interpretation und drückt damit das Verständnis der inszenierenden Personen aus.

Wenn zum Beispiel eine Märchen-Tonbandkassette produziert wird, dann hat der Produzent den Ehrgeiz, seinen Kunden etwas ›Ordentliches‹ abzuliefern. Er engagiert einen professionellen Sprechen oder Schauspieler, der dem Rumpelstilzchen sprachliche Gestalt gibt. Gewöhnlich kommt dabei heraus, dass Rumpelstilzchen ein böser kleiner Kerl ist, der nichts im Sinn hat, als dem armen Müllermädchen das erste Kind wegzunehmen. Der Produzent würde seinen Kunden einen besseren Dienst leisten, ließe er das Märchen schlicht vorlesen und überließe damit die Deutung, die Interpretation den Zuhörern. Denn schaut man nur genauer hin, ist Rumpelstilz ein schlechter Kerl, ein übler Bursch ganz sicher nicht. Doch männlichen Männern Konkurrenz ist er allemal.

Rumpelstilzchen erscheint der Müllerstochter also. Und seine Hilfe bietet es ihr an. Doch selbst in ihrer großen Not erkennt die Müllerstochter des kleinen Helfers wahres Wesen zunächst nicht. Rumpelstilzchen erbietet sich, sie aus der misslichen Lage zu befreien. Doch die Hilfe soll nicht umsonst sein, es fragt, was sie dafür zu geben bereit ist. Und das ist nicht viel.

So sehr ist sie von der männlichen Welt indoktriniert, dass sie nur auf der Ebene des Goldwertes denken kann. Und da bietet sie, was sie hat: ihr Halsband. Was für ein Geschäft. Rumpelstilzchen verwandelt eine ganze Kammer voll Stroh in Gold und lässt sich dafür mit einem kleinen Halsbändchen entlohnen. Die Müllerstochter scheint über die Proportionen dieses Handels nicht weiter nachzudenken. Sie will nur ihre Haut retten. Das Männchen kümmert sie wenig.

Rumpelstilzchen nimmt das Halsband, als sei es ein gewöhnlicher Handel, und spinnt das Stroh mit großer Leichtigkeit: schnurr, schnurr, schnurr, dreimal gezogen, war eine Spule voll.

Am nächsten Morgen findet der König die Kammer voller Gold, doch das macht ihn nur noch begieriger. Dass er bereits bei Sonnenaufgang nachschauen kommt, läuft seiner Gier voraus. Sogleich lässt er die Müllerstochter in eine andere, größere Kammer voll Stroh bringen - eine Beschreibung, die eine gewisse Handgreiflichkeit vorstellt. Ja, freiwillig wird das Mädchen wohl auch nicht gegangen sein, denn wieder heißt es: Gold spinnen oder Leben einbüßen.

Also hockt sie in der verschlossenen Kammer vor dem Stroh, hat Angst um ihr Leben und weint. Und wieder kommt von irgendwoher das lächerliche Männchen, um ihr beizustehen, ihr aus der Patsche zu helfen. Noch
versteht die Müllerstochter das Spiel nicht. Noch fragt sie nicht nach dem Geheimnis, das hinter diesem Männchen beziehungsweise für das dieses Männchen steht.

diesmal bietet sie zum Lohn den Ring von ihrem Finger. Wieder fragt sie nicht, warum sich das Männchen, das doch aus Stroh eine ganze Kammer voll Gold spinnen kann, mit einem Ringlein begnügen soll. Wieder zahlt sie für eine große Menge Gold mit einer kleinen Menge Gold, spielt noch immer das Männerspiel des Habens und Entgeltens, ohne weiter darüber nachzudenken.

Immerhin, hat sie beim ersten Mal mit ihrem Halsband bezahlt, einem eher beliebigem Schmuckstück. Jetzt gibt sie nun ihren Ring hin. Der ist nach irdischen (männlichen) Maßstäben weit weniger Wert als das Halsband, allein seiner Goldmenge wegen. Doch ein Ring ist Symbol für Verbundenheit, hat einen höheren Wert, als Gold ihn je haben kann. Trotzdem bleibt sie noch immer auf der Ebene von Leistung und Gegenleistung.

Rumpelstilzchen nimmt den Ring und zeigt sich ungerührt von diesem vordergründigen Verhalten. Treu und brav spinnt er ihr auch dieses Stroh zu Gold.

Der Müller
Der König
Jungfer Müllerin
Rumpelstilz
Die Hochzeit
Das Versprechen
Das Opfer
Das Schlüsselwort
Erlösung
Eros
Das Ende

Beenden