Rumpelstilzchen: Das Geheimnis wird gelüftet
 
 

Erlösung

Am Schluss eines Märchens steht die Erlösung, das immer gute Ende. Gewöhnlich ist der Märchenheld von sich aus nicht in der Lage, die unlösbare Aufgabe, die das Leben für ihn darstellt, am Ende seiner Suchwanderung selbst zu lösen. Weil er aber aufrichtig und seine Seele rein ist, fließen ihm (überirdische) Kräfte zu, die zur Erlösung führen.

In diesem Märchen ist es der Zu-Fall, der die Lösung, die Erlösung bringt. Das kann als Hinweis verstanden werden, dass die Rumpelstilzchen-Energie nicht durch Anstrengung, Macht oder Willen beherrscht werden kann, sondern nur durch (liebevolle und) mühelose Hingabe.

Der Zufall ist, dass Rumpelstilzchen an einem hohen Berg, hinter einer Waldecke, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, beobachtet wird. Es tanzt um ein Feuer und singt: "Heute back ich, morgen brau ich."

Gebacken und gebraucht wurde besonders vor großen Ereignissen wie Taufe, Hochzeit und Begräbnis, also den großen Stationen des Lebens. Rumpelstilzchen scheint also in Erwartung eines solchen großen Lebensereignisses zu sein.

Backen und Brauen sind ureigene weibliche Tätigkeiten, die das Leben erhalten und sein Wirken symbolisieren. Das (Samen-) Korn enthält die Getreidepflanze in abstrakter Form. Brot ist als nährende Substanz Symbol des Leibes und des Lebens. Durch das Backen wird die abstrakte Form in die reale überführt, es ist quasi ein Prozess des Lebendigmachens. Deshalb auch werden Backen und Gebären in Verbindung gebracht, Babys mit Brotlaiben verglichen und im Volksmund als ›gut gebacken‹ bezeichnet.

Wenn sich etwas zusammenbraut, dann entsteht etwas Überwältigendes, Übergroßes. Die Ingredienzen reagieren miteinander, brodeln und gären, gehen neue, eigene Verbindungen ein. Der Kessel, in dem dieses gären stattfindet, ist Symbol für die Gebärmutter. In diesem Kessel rührt die große Mutter Natur (die "Hexe") das Gebräu, aus dem ihre Schöpfungen hervorgehen. Und in diesen Kessel, in diese Ursuppe rührt sie alle Kreaturen am Ende auch wieder ein.

Es liegt nahe, Rumpelstilzchen als Personifizierung dieser Hexenenergie, die Männermännern Angst macht und die sie deshalb verachten ("lächerliches Männchen"), dieser unbändig vitalen schenkenden und raubenden Lebensenergie zu verstehen, der Energie schlechthin, die urwesentlich weiblich ist. In der von männlichen Prinzipien durchstrukturierten Objektewelt ist für diese Energie kein Platz, außer denn, sie zu unterwerfen, gefügig, nutzbar zu machen. Der Männermann verneint diese Energie sogar energisch, obwohl sie ja auch, nachrangig, Teil seines eigenen Wesens ist, und er diffamiert sie mit großem Eifer in der Frau, wo sie vorrangig ist.

Die Müllerstochter illustriert die Frau in der Männerwelt, die sich dem Diktat des Männermännlichen beugt und es sich vermeintlich notgedrungen zu eigen macht (verbildlicht durch das Tragen, Anhaben von Hosen). Dabei gerät sie aber nur immer weiter in die Enge, weil ihr das männliche Denken wesentlich fremd ist und sie deshalb damit nicht erfolgreich sein kann, oder sie muss ihr Wesen verleugnen und verbiegen (was wir heute allerorten reichlich beobachten können).

Die Frau behauptet sich nur, kann nur wirklich lebendig überleben, so erzählt dieses Märchen, weil die Lebenskraft (hier als Rumpelstilzchen) unbeugsam virulent in ihr wirkt. Ihre ureigene Kraft wird ihr besonders bewusst, wenn sie ein Kind, wenn sie neues Leben in diese Welt bringt (was kein Mann nie kann, weswegen er die Frau fürchtet). Und gleich beim ersten Kind muss sie sich entscheiden, ob sie die Lebenskraft, das Urweibliche meistert und das Kind (und alle weiteren) ›behält‹ oder beides an die ›objektive‹ Männerwelt verliert.

Wenn sie sich nicht, Frau, die sie ist, neben dem dominant Männlichen als gleichwertig anders behauptet, wird sie auf eine Funktion als Amme reduziert. Ihre Aufgabe reduziert sich dann darauf, die männermännlichen Gene zu reproduzieren und sich seiner Hack- und Besamungsordnung zu unterjochen.

Um sich gegen die Männerdoktrin zu wehren, versuchen Frauen heute oft, das Männliche zu imitieren, obwohl sie das nicht wirklich oder nur begrenzt können. Doch ihre Kinder entbehren so oder so der weiblichen Lebenskraft, die allein sie wachsen und lebenstüchtig erstarken lässt. Denn entweder ist ihre Mutter eine männerdominierte, sexualisierte und verschleierte oder entblößte Amme oder sie ist eine quadratisch praktisch funktionierende Männerfrau. Das muss die kindliche Entwicklung beeinträchtigen. Die Kinder kommen unter die Räder der Männerwelt, immer mehr zeigen heute entwicklungsneurologische Auffälligkeiten.

In diesem Märchen wird die Königin erlöst. Sie findet deshalb zu sich, weil sie die Lebenskraft, ihre ureigene weibliche Kraft in sich erkennt und beherrschen, achten, nutzen lernt. Das wird durch den Namen Rumpelstilzchen symbolisiert.

Beachtlich ist, wie es dazu kommt. Märchen gehen, das ist Regel, immer gut aus. Darin liegt, weil sie tiefgründig glaubhafte Lebensmodelle sind, ihr psychosozialer Balsam. Das gute Ausgehen, die Erlösung, wird nicht durch eigenes äußeres Wirken erlangt, sondern durch ein inneres Wirken, innere Werte. Das reale äußere Einwirken besorgen schon andere, dem Leben immerfort dienende Kräfte, um die wir uns nicht besorgen müssen, wenn wir nur wirklich lebendig leben.

Diese äußeren Kräfte, auf die der Märchenheld keinen Einfluss hat, haben muss, werden hier durch den Lakai vertreten, der von der Königin nach Namen suchen ausgesandt zufällig am dritten Tag das "lächerliche Männchen" beobachtet und belauscht.

Auch hier scheint die Erstversion stimmiger, wo der König selbst, die eigentliche äußere Kraft, auf der Jagd, einer urmännlichen Tätigkeit, das "lächerliche Männchen" entdeckt und seiner Frau davon berichtet.

Das ist so wohltuend wunderbar. Zum ersten Mal nähert sich der König seiner Frau ganz absichtslos. Er berichtet ihr einfach nur von seinem Erlebnis. Das ist Ausdruck von Hinwendung und Nähe. Das Märchen sagt nicht, ob er von ihrer Namenssuche weiß, aber das ist in dieser zärtlichen Situation ja auch ganz bedeutungslos.

Der Mann als Ehegatte öffnet die Frau für die Lebenskraft in ihr, indem er sich ihr in Liebe und Achtung nähert. Er erschließt das Feuer des Lebens in ihrem Schoß, indem er Diener dieses Feuers ist. Aus diesem Feuer geht die Fülle des Lebens hervor, die er dann als Mann, am Tage, ordnen und lenken mag.

Dieses gute Ende, diese Erlösung entspricht anderen Märchen, die auch die Ehe von Mann und Frau thematisieren. Mann und Frau erlösen sich gegenseitig. Durch seine Liebe befreit der König die Königin von ihrer Angst, die durch das Fehlen von Liebe in sie eingedrungen war. Und so gewinnt er ihre Liebe, die ihn aus seinem selbstgemauerten männlichen Klotzgefängnis befreit und seiner Welt die ganze reiche Fülle des Lebens eröffnet.

Das Märchen könnte an dieser Stelle enden, wie Märchen eben enden: "So lebten sie glücklich und zufrieden..." Doch die Begegnung mit dem, der Abschied vom lächerlichen Männchen steht ja noch aus.

Der Müller
Der König
Jungfer Müllerin
Rumpelstilz
Die Hochzeit
Das Versprechen
Das Opfer
Das Schlüsselwort
Erlösung
Eros
Das Ende

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