Rumpelstilzchen: Das Geheimnis wird gelüftet
 
 

Der Müller

Da haben wir zunächst den Herrn Müller. Er betritt als erster die Bühne. Wieso ein Müller?

Müller waren nicht besonders angesehen, aber gewöhnlich reich. Schließlich gehören sie zu den frühesten Kapitalisten. Sie besitzen ein Produktionsmittel, von dem Bauern wie Bäcker abhängig sind.

Die Mühle stand gewöhnlich außerhalb des Dorfs, auf freiem Feld, dort, wo der Wind gut in die Flügel greifen konnte, oder an einem Flusslauf. Diese abgeschiedene Lage machte sie als heimlichen Treffpunkt beliebt, für Liebespaare wie für dunkle Gestalten. Und nicht selten hatte der Müller seine Finger im Spiel, machte gute Geschäfte mit dem sexuellen Teil der Liebe oder bot jenen Unterschlupf und Beihilfe, die das Tageslicht scheuten.

Ein Nachtlokal am Boulevard de Clichy in Paris, es wurde 1889 eröffnet, erinnert mit seinem Namen an die zwielichtigen Zusammenhänge: rote Mühle (Moulin-Rouge).

Es soll hier aber nicht behauptet werden, alle Müller hätten mit der Halbwelt in Kontakt gestanden. Doch reich waren sie gewöhnlich so oder so. Unser Müllersmann hier aber ist arm. Ein Mann ohne Ansehen und ohne Reichtum. Ein Versager. Wir können ihn vor unserem geistigen Auge ansehen. Die Kleidung geflickt und voller Mehlstaub. An den Füßen klobige Holzschuhe. Auf dem Kopf ein schäbiges Stoffmützchen mit einer Bommel daran. Die Haltung gebückt vom Schleppen der Säcke. Das Gesicht grau, doch die Nase rot, denn gegen den trockenen Staub trinkt er zu gern einen Humpen Bier zu viel.

Dieser Mann hat kein Ansehen im Dorf. Vermutlich ist er dumm und ungeschickt. Er stellt nichts dar und hat im Leben nichts erreicht. Das Märchen sagt einfach nur, er sei arm, doch das meint arm sowohl an Gut wie auch an Geist.

Doch halt! Eine schöne Tochter hatte er wohl. Blitzt nicht sofort das Bild von Legionen von Vätern auf, die "eine schöne Tochter" haben? Männer, über die das Leben hinweggeht, weil sie kleine, austauschbare Rädchen in einer gigantischen Produktionsmaschine sind, denen das Schicksal aber eine Tochter als Baby in die Arme gelegt hat. Eine Tochter! Was wird da nicht alles im Vatermann gekitzelt.

Jetzt ist er etwas. Jetzt ist er ein Mann. Denn er hat eine schöne Tochter. Er liebt sie abgöttisch, diese schöne Tochter. Er tut alles für sie, so denkt er, so scheint es. Sie ist sein Ein und sein Alles. Und einfach alles muss sie ihm sein. Fast vergisst man zu fragen, ob dieser Mann mit der schönen Tochter denn gar keine Frau hat. Es muss doch eine Mutter geben, von der die schöne Tochter zur Welt gebracht wurde. Wie sieht die aus? Wo steckt sie? Was tut sie? Der Vater der schönen Tochter verliert kein Wort darüber und das Märchen tut es auch nicht. Die Frau, die Mutter des Mädchens zählt nicht. Alles was zählt ist nur die schöne Tochter allein, seine eigene schöne Tochter.

Das ganze Leben dieses armen Mannes dreht sich nur um seine schöne Tochter, weil es in diesem seinem Leben nichts anderes gibt, um das es sich sonst drehen könnte. Und die Tochter muss auch gar nichts weiter tun, als diese schöne Tochter zu sein, ob sie nun will oder nicht. Seht nur alle her, hier ist meine schöne Tochter. Er ist so stolz, als hätte er sie eigenhändig aus Elfenbein geschnitzt.

Und nun erfährt dieser arme Müllersmann mit der schönen Tochter die Chance seines Lebens. Er begegnet dem König, kann gar zu ihm sprechen. Doch was hat er schon zu sagen? Was ist der Aufmerksamkeit des Königs wert? Womit soll er dem Herrn König imponieren? Womit kann er sich ein Ansehen verschaffen? Freilich. Mit seiner Tochter. Doch vor einem König genügt es nicht, dass sie schön ist. Schöner Töchter hat das Land viele. Und für einen Mann wie den König, ist Schönheit ohnehin einfach alltäglich.

Doch unser Müllerlein weiß wohl Rat, sich vermittels seiner Tochter dem Herrn König gegenüber auf rechte Weise zu positionieren. Spricht: "Eine Tochter habe ich, eure Durchlaucht, Stroh kann die zu Gold verspinnen."

So einem König gefällt das natürlich. Ach, dieser Müllersmann! In völliger Verblendung und auf Anerkennung geil stößt er seine eigene schöne Tochter ins Unglück. Die Tochter, die so sehr zu lieben er doch aller Welt vorschwärmt. Doch was er da tut, merkt er ja gar nicht. Er ist der kleine Mann ganz groß. In völliger Selbstüberschätzung, verliert er jegliches Maß. Der Müller ist auf dem Gipfel seiner eingebildeten Karriere.

Das dargebotene Röslein bricht der König gern, um es sich ans Revers zu stecken: "Wenn deine Tochter so geschickt ist, wie du sagst, so bring sie morgen in mein Schloss, da will ich sie auf die Probe stellen."

Das Spiel ist aus. Der Müller hat den großen Auftritt seines Lebens gehabt. Jetzt ist der seine schöne Tochter los, für immer. Dass er sich fortan brüsten kann, sein eigen Fleisch und Blut sei des Königs Frau, wird ihm auch nur mitleidiges Lächeln seiner Nachbarn eintragen. Wir erfahren es nicht. Der Müller verschwindet in der Versenkung und das Märchen lässt ihn auch nicht wieder aufsteigen.

Der Müller
Der König
Jungfer Müllerin
Rumpelstilz
Die Hochzeit
Das Versprechen
Das Opfer
Das Schlüsselwort
Erlösung
Eros
Das Ende

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