Rumpelstilzchen: Das Geheimnis wird gelüftet
 
 

Das Schlüsselwort

Die Müllerstochter opfert ihr Kind nicht freiwillig, die Männerwelt, die sie in alle Not gebracht hat, zwingt sie dazu. Doch die geheimnisvolle Kraft, die dieses Märchen durchwebt und das Kindsopfer herausfordert, bringt die Müllerstochter, inzwischen zur Königin avanciert, auch auf den Weg der Rettung, der Erlösung: Den Namen soll sie herausfinden.

Stellen Sie sich vor, Sie suchen ein bestimmtes Haus, kennen aber die Adresse nicht. Stellen Sie sich vor, Sie suchen ein bestimmtes Präparat, kennen aber seine Bezeichnung nicht. Oder stellen Sie sich vor, Sie suchen eine bestimmte Person, wissen aber ihren Namen nicht.

Der Name, die Bezeichnung, das Wort verleiht Macht über das gemeinte Ding, ist ein Index, mit dem ich es aufrufen kann. Was mir fremd ist, verursacht mir ›namenlosen‹ Schrecken, doch was ich in Worte fassen kann, dessen bin in Herr. Ein Lehrer, der vor einer tobenden Horde Achtklässler steht, ist machtlos, doch wenn er die Banausen beim Namen rufen kann, wird er ihrer Herr.

Und so wie es im Stofflichen gilt, wirkt es auch im Unstofflichen. Wenn ich die Namen von Göttern, Mächten, Kräften, Wesen kenne, kann ich sie anrufen. Spirituelle Zeremonien basieren auf solchen Anrufungen genauso wie magische Praktiken. In Zauberwörter oder -sprüche ist die übersinnliche Macht der Veränderung gedacht oder sie zitieren Wesenheiten herbei, die dem Sprecher zu Diensten sein müssen, weil er ihren Namen kennt.

Wenn Rumpelstilzchen also die Königin auffordert, seinen Namen zu sprechen, dann heißt das nichts anderes, als dass sie das Wesen, die Energie, die Rumpelstilzchen verkörpert, beherrschen lernen soll.

Jedes Märchen (das die Bezeichnung verdient) besteht aus drei großen Abschnitten: der Notsituation, der Suchwanderung und der Erlösung. Gewöhnlich ist die Beschreibung der Notsituation recht kurz. Doch hier fällt sie besonders lang aus, denn sie ist erst an diesem Punkt abgeschlossen. Die Not der Müllerstochter hat sich endlos lange aufgebaut, seit ihrer frühesten Kindheit bis jetzt, wo sie erwachsen ist, die Stelle der Königin besetzt, aber noch nicht erfüllt. Der Gipfel ihrer Not war nicht erreicht, als sie Stroh zu Gold spinnen musste. Jetzt erst, wo es darum geht, ihr Kind zu verlieren oder die Rumpelstilzchen-Kraft zu meistern, ist die Entscheidung unausweichlich.

Die Suchwanderung fällt dafür recht kurz aus. Die Protagonistin muss einen Namen finden, der die Meisterung symbolisiert. Darüber lässt sich nicht viel erzählen, muss nicht viel erzählt werden. Sie sinnt still vor sich hin (Erstfassung), was den geistigen Vorgang, die spirituelle Suche, die Meditation andeutet, oder schickt zusätzlich einen Boten in die (männliche) Welt hinaus (Letztfassung), der ihr natürlich nur allerlei weltliche und lächerliche Namen zutragen kann.

Der Müller
Der König
Jungfer Müllerin
Rumpelstilz
Die Hochzeit
Das Versprechen
Das Opfer
Das Schlüsselwort
Erlösung
Eros
Das Ende

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