Rumpelstilzchen: Das Geheimnis wird gelüftet
 
 

Jungfer Müllerin

Da ist sie nun angelangt, des armen Papa Müllers liebstes Kind, seine schöne Tochter, sein Ein und sein Alles: eingesperrt in eine Kammer voll wertlosem Stroh, von dem der angesehene Herr König mehr als genug zu haben scheint; vor die unlösbare Aufgabe gestellt, das Vertrocknete, Staubige in Glänzendes, Wertvolles zu veredeln; und dafür der Belohnung angesichtig, bei Erfolg nicht mit dem Leben bezahlen zu müssen.

Dass der Müllerstochter die Tränen kommen, ist leicht zu verstehen. Wie sehr hat sie sich immer schon die Liebe ihres Vaters gewünscht. Doch statt Zärtlichkeit, Nähe und Ermutigung zu empfangen ist sie emporgehoben worden, empor in erdferne, Schwindel erregende Höhen, ist sie gehisst worden wie eine Regimentsfahne. Was der arme Müller in seinem Leben nicht erreicht hat, soll nun seine Tochter gutmachen. Die Liebe, die er selbst als Kind nicht erfahren hat, konnte und kann er seiner Tochter nicht geben. Seiner Frau, die hier erst gar nicht Erwähnung findet, gewiss auch nicht. Dieser Mann kennt die Liebe nicht, das ist seine wahre Armut. Menschen sind für ihn Funktionen, derer er sich - so gut er denn kann - bedient. Und die Funktion seiner Tochter ist, schön zu sein und ihn mit dieser Schönheit zu bestrahlen, damit das Stroh, das er ist, glänzen kann wie pures Gold.

Ja, in seiner emotionalen Blindheit erlebt der Müller wohl tatsächlich, dass seine Tochter das Stroh seines Lebens zu Gold adelt. Seine Blindheit besteht eben gerade darin, nicht zu erkennen, dass er selbst es nur in seiner Einbildung vollbringt und dass er zur Bestätigung dieser Einbildung seine Tochter missbraucht, die zu lieben er doch vorgibt. Er schafft ein Idealbild und fragt nicht danach, wie seine Tochter das ausfüllen kann.

Wie viele Väter (aber auch Mütter) betrachtet der Müller die Tochter als sein Produkt, als einen erweiterten Teil seiner selbst, als sein Eigentum. Über Eigentum kann man nach Belieben verfügen. Natürlich behauptet er immer, glaubt es womöglich selbst, nur das Beste für sein Kind zu wollen. Ja, was für mich das Beste ist, das ist natürlich auch für einen Teil von mir das Beste.

Die Müllerstochter hat es getragen, hat es auszufüllen versucht, konnte in ihrer kindlichen Abhängigkeit gar nicht anders. Schutz von einer Mutter, die nicht einmal in Erscheinung tritt, konnte sie nicht erwarten. Doch die Jahre gehen dahin und selbst die abhängige Tochter wächst unweigerlich heran und strebt nach Unabhängigkeit. Der Tag kommt näher, wo sie das Elternhaus verlassen kann und wird. Wie und wohin ist ihr dann egal, nur fort, nur fort. Jedes Joch bietet mehr Freiheit als dieses Vaters Liebe.

Da wird das Mädchen mit jedem mitgehen, der es heimführen, fortführen will. Sie wird nicht hinschauen, sie wird wegschauen. Sie wird nicht wählen, sondern abwählen. Sie hat nur einen Wunsch, nur ein Bedürfnis, nicht mehr Papas schöne Tochter sein zu müssen. Kann es anders kommen, als dass sie einer fortführt, dessen schöne, tüchtige Frau sie wird sein müssen?

Nun, unsere Müllerstochter hat die Qual der Wahl erst gar nicht, denn sie wird regelrecht verschachert. Der Papa will sich vor dem Herrn König ein Ansehen verschaffen. Und der König liebt eine Kunst, die aus Stroh Gold zu machen vermag. Die Frau, die das tut, interessiert ihn nicht so sehr. Doch er will sie zur Königin an seiner Seite machen, auch wenn sie nur eines armen Müllers Tochter ist. Wieviel Glück wird die junge Frau aus dieser Verbindung erwarten dürfen?

Zunächst sitzt sie ja nun in der königlichen Kammer voller Stroh ihrer baldigen Hinrichtung angesichtig. Doch Hilfe kommt unverhofft. Wieso? Woher? Von wem?

Der Müller
Der König
Jungfer Müllerin
Rumpelstilz
Die Hochzeit
Das Versprechen
Das Opfer
Das Schlüsselwort
Erlösung
Eros
Das Ende

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