Rumpelstilzchen: Das Geheimnis wird gelüftet
 
 

Das Opfer

Die Vorstellung zu opfern, also aus religiöser Überzeugung freiwillig etwas uns Wertvolles hinzugeben, ist uns heute recht fremd. Opfer kommen gewöhnlich in negativem Kontext vor: Naturkatastrophen, Epidemien, technische Unfälle, Terroranschläge oder Kriegshandlungen. Deshalb sind wir auch geradezu entsetzt, wenn Rumpelstilzchen der jungen Frau das Erstgeborene abfordert. Und Schrecken kann blind machen für die wirklichen Hintergründe. Rumpelstilzchen wird als übler Bursche interpretiert, vielleicht ein Kinderfresser, der ganz im Sinne des Märchens am Ende mit dem Tode bestraft wird. Doch Rumpelstilzchen wird gar nicht bestraft, denn Strafe setzt eine von legitimierten Dritten ausgeführte Handlung voraus.

Wir fragen uns, was will Rumpelstilzchen mit dem Kind? Will es das Kind etwa an Elternstatt annehmen? Das wäre wohl eine zu weltliche Vorstellung von einem, der durch verschlossene Türen gehen oder einfach plötzlich in der Kammer auftauchen kann.

Kulturen, die nicht nur den Vatergott verehren sondern auch im Bewusstsein der Muttergöttin leben, dem göttlichen Schoß, der Mutter Natur, Mutter Erde, dem Mutterboden, aus dem alles Leben hervorgeht, solche Kulturen verehren die Quelle des Lebens, die ja auch Quelle ihres eigenen Lebens ist. Sie beweisen der Mutter Natur Ehre, indem sie anerkennen, dass ihnen nichts Lebendes je gehören kann, nicht einmal das ›eigene‹ Leben. Alles Belebte geht aus der Erde hervor und geht schließlich wieder in sie ein. Alle Kinder, Tiere und Pflanzen gehören der Mutter Natur allein, die sie uns in ihrer reichen Großzügigkeit für dieses Erdenleben ausborgt.

Dieses Anerkennen der natürlichen, der wahren ›Besitzverhältnisse‹ geschieht durch Opfergaben. In bäuerlichen Kulturen war es Brauch, ein erstgeborenes Vieh oder die ersten Früchte vom Feld der Göttin der Fruchtbarkeit zu opfern, also symbolisch zurückzugeben, was ihr ohnehin gehört, und damit für den Rest zu danken, der zum (Über-) Leben behalten wird. Im Erntedankfest hat sich dieser Brauch bis heute erhalten. Darin drückt sich die spirituelle Achtung vor der Natur aus, wie sie zum Beispiel auch ein Indianer bezeugt, der sich bei einem Büffel bedankt und sich entschuldigt, dass er ihn töten muss. Wie anders leben wir heute. Wir schütteln den Kopf über antike Kulturen, die ihren Göttern voller Ehrfurcht gar Menschenopfer dargebracht haben. Selbst aber bringen wir unserem Gott der Technik heißt, ohne großartig darüber nachzudenken, jedes Jahr Tausende Verkehrs- und andere Opfer.

Die Bereitschaft, das erstgeborene Kind zu opfern, ist also ein Ausdruck der Ehrerbietung an die göttliche Kraft. Schon in der Bibel gibt es dieses Motiv. Gott fordert von Abraham, ihm seinen Sohn Isaak zu opfern. Ist Gott grausam? Ist Rumpelstilzchen grausam?

Kinder sind zweifellos das Wichtigste, was wir im Leben gewinnen können. Und dem Erstgeborenen kommt die größte Freude zu. Viele Eltern betrachten Kinder als ihren Besitz. Doch Kinder sind eigenständige Wesen, die bei den Eltern nur zu Gast sind. Das Leben der Eltern, das Leben der Kinder, alles Leben gehört allein der Mutter Natur. Die Bereitschaft, das ›eigene‹ Kind zu opfern, erkennt die Herrschaft der Natur an. Das Kind ›opfern‹ kann auch heißen, es nicht egoistischen Wünschen zu unterwerfen, es zu Papas schöner Tochter zu machen, sondern seinen eigenen Weg gehen zu lassen.

Mit unserer übermächtigen Technik sehen wir uns als Herrn über die Natur, und natürlich finden wir die Vorstellung barbarisch, das Erstgeborene zu opfern. Wir verkennen dabei, dass wir keineswegs Herr über die Natur sind, höchstens ihr Schinder, und wir übersehen, dass auch heute nicht gerade selten das (ungeborene) Kind ›geopfert‹ wird. Wessen Herrschaft wird durch dieses Opfer anerkannt?

Das Beispiel aus der Bibel zeigt uns auch, das Opfer muss nicht wirklich vollzogen werden. Es geht nur um die geistige Haltung, die innere Bereitschaft, keinen Besitzanspruch zu erheben, dem Göttlichen zu huldigen, der Natur, dem Lebenden Vorrang zu geben vor dem Gold.

Die Müllerstochter ist in ihrer existenziellen Not bereit, ihr Kind zu opfern, nicht zu besitzen, es der Kraft (zurück, anheim) zu geben, die sie dreimal, also wieder und wieder, aus ihrer Todesnot errettet hat. In diesem Märchen erscheint diese Kraft aus männlicher Perspektive betrachtet als "lächerliches Männchen". Was ist das für eine Kraft? Woher kommt sie? Wo residiert sie?

Der Müller
Der König
Jungfer Müllerin
Rumpelstilz
Die Hochzeit
Das Versprechen
Das Opfer
Das Schlüsselwort
Erlösung
Eros
Das Ende

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